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Louis Haeusser, der „Bönnigheimer Heiland"

Facetten aus seinem Leben

„Ihr Heuchler, ihr doppelzüngiges Otterngezücht, ihr Schlangenbrut, ihr überständigen Gräber, ihr wandelnden Abortgruben, ihr lebenden Leichname, ihr gehenden Gräber, ihr modernden Aashäuser, ihr verkörperte Sauställe, geht in Euch - schämet Euch!"

 

Mit solchen wortgewaltigen Tiraden, sehr geehrte Zuhörer, pflegte der sogenannte „Bönnigheimer Heiland" Louis Haeusser die Besucher  seiner Vorträge zu über­schütten. Wie kam es, dass dieser Mann mit seinen Reden jahrelang die Säle füllte?

 

Ich will im folgenden versuchen, Louis Haeusser, dem verlachten, geschmähten, verkannten, sogenannten „Heiland von Bönnigheim" gerecht zu werden.

 

Ludwig Christian Haeusser kommt am 6. November 1881 als erstes Kind seiner Eltern Friedrich und Dorothea Magdalene, geborene Mann auf die Welt und entwickelt sich zu einem äusserst aufgeweckten vifen Büble mit hervorragendem Gedächtnis. Zum großen Ärger seines Vaters ist dem Buben das Lernen, Lesen, Nachdenken viel wichtiger als das Schaffen im Wengert, auf dem Feld oder im Stall. Mit den damals für richtig angesehenen Mitteln - Schaffen bis zum Umfallen und harten Prügel­strafen - versucht der Vater, dem Buben das „Sinnieren", den „Studenten" aus­zutreiben und einen rechten Bauern und Wengerter aus ihm zu machen. Der Bub entwickelte dagegen eine außergewöhnliche Willenskraft.

 

In seiner Not wird er zum Bettnässer, wird nachts vom Vater in den Saustall gesperrt und hat das Gefühl, sein Vater hätte die Säue lieber als ihn, seinen Buben.

Sein Leben lang wird Ludwig Christian Haeusser seinen Vater hassen und verachten, der ihn „zu knicken und zu brechen" gesucht hat. Der Vater hat Wunden in sein Kinderherz geschlagen, die niemals vernarben können.

 

Sein Leben lang wird er sich gegen Staatsdiener, von denen er sich wie von seinem Vater unterdrückt fühlt, mit Hasstiraden sondergleichen wehren und dabei letztendlich seelisch und körperlich zugrunde gehen.

 

1925 schreibt Haeusser an seinen 16-jährigen Sohn: „Trotz aller Prügel hat er meinen Drang nach Wissen nicht gebändigt. Der Wille siegte und besiegte auch meinen Vater, der mich am Abend meines Konfirmandentages, am 31. März 1895, mit der Ankündigung überraschte, er wolle mich, auf dringendes Anraten meines Lehrers Koppenhöfer, studieren lassen!" Alle Achtung vor dem Vater, der durch diesen Entschluss seinen Ältesten als Nachfolger auf dem Hof verliert.

 

 

Zum Studieren kommt Ludwig leider nicht. Er durchläuft eine Kaufmannslehre in Stuttgart, lernt abends und nächtelang Fremdsprachen, besucht nach der Lehre ein viertel Jahr lang eine Handelsschule, schafft dann ein Jahr in Ostheim als kaufmännischer Angestellter.

 

Als er noch keine 18 Jahre alt ist, kündigt er sein Arbeitsverhältnis und eröffnet seinen Eltern, er ginge nach London. Der Vater reagiert auf dieses Ansinnen mit den Worten: „Do send mer glei fertig, dem gibt mer oifach koi Geld." Doch Ludwig hat eisern gespart. Sechshundert Mark hat er auf seinem Sparbüchle. Viel Geld damals - der Jahresverdienst eines Arbeiters!

Ohne den Segen des Vaters reist er nach London, arbeitet dort zehn Monate lang in seinem Beruf und fährt 1900 mit ersparten 60 Pfund Sterling zur Weltausstellung nach Paris. 60 Pfund Sterling waren damals 1.500 Franc, wieder eine stattliche Summe.

 

In Paris entwickelt sich der blitzgescheite Ludwig Christian Haeusser zu einem äußerst erfolgreichen Geschäftsmann. Als erste Tat gelingt es ihm, sich, gerade 18-jährig, vom Vormundschaftsgericht für volljährig erklären zu lassen. Nach zwei Jahren ist er Chef eines gutgehenden Geschäfts, das er auf Kommissionsbasis mit einem Angestellten betreibt.

 

Im Oktober 1904 gründet der 23-jährige die Kommanditgesellschaft „Louis Haeusser & Cie" zum Vertrieb von Champagner. Er veranstaltet mit anderen, nicht offiziell dazu Berechtigten, Ausstellungen, vergibt Qualitätsdiplome und -medaillen. Der Export nach Russland floriert. Allerdings sind diese Geschäfte nicht ganz sauber, Haeusser kommt mit den Gesetzen in Konflikt.

 

1905 heiratet er Gabrielle Marguerite Grange aus Bordeaux, von der er behauptet, sie stamme von König Henry IV. ab und sei mit dem belgischen Königshaus verwandt. Gabrielle bringt ein Heiratsgut von 100 000 Franc mit - keine schlechte Partie.

 

Man bezieht eine elegante Wohnung auf den Champs Elyssee. Die Sommermonate ver­bringt man in Trouville sur Mer in der Normandie oder in Interlaken in der Schweiz.

1909 bekommen die Haeussers einen Sohn: Louis Gabriel Robert.

 

Polizeiliche Ermittlungen lassen die reichen Einnahmen aus dem Diplomhandel immer mehr versiegen, Haeusser kommt in finanzielle Schwierigkeiten. Doch mit seiner immensen Willenskraft und seinem gescheiten Hirn gründet er ohne eigenes Geld eine Aktiengesellschaft, die „Sekt AG Louis Haeusser & Cie", dazu gleich ein Tochterunternehmen in Luzern. Durch den formellen Rückkauf der nie aus­gegebenen Aktien ist Haeusser Alleininhaber der Firma, und kann über eingehende Gelder frei verfügen. Er genehmigt sich als Direktor und Präsident ein jährliches Fixum von 60.000 Franc, das Gehalt eines französischen Ministerpräsidenten. Und das Geschäft blüht. Zu seinen Kunden gehören führende Hotels, im Orient ist der Haeusser-Sekt besonders begehrt.

 

1913 verlassen die Haeussers Paris und ziehen in die Schweiz. Von der Luzerner Filiale aus betätigt sich Haeusser als Buchmacher für französische Rennwetten. Das ist illegal. Im Juni 1914 erlässt Deutschland einen Haftbefehl gegen ihn wegen gewerbsmäßiger Wettgeschäfte. Haeusser hat Glück, er wird von der Schweiz nicht ausgeliefert.

 

Hier zeigt sich eine weitere krumme Tour. Doch ich bin sicher, dass der gewiefte, gescheite Geschäftsmann das Risiko solcher Geschäfte genauestens abwog und trotz eventueller Strafen am Ende Gewinn sah.

 

Gegen heutige Milliardenbetrüger aber doch ein recht kleiner Gauner.

Haeusser lebt getreu seiner Devise: „Haeusser ist Napoleon, Haeusser stirbt, aber er ergibt sich nicht !" Er bringt es fertig, sich bis in die ersten Kriegsjahre hinein seinen großartigen Lebensstil leisten zu können. Durch die Beschlagnahme ausländischen Vermögens bei Ausbruch des ersten Weltkriegs hat Haeusser einen großen Teil seines Vermögens verloren. Nach seiner Behauptung waren das 250 000 Franc.

 

Als das fürstliche Leben ein Ende hat, nimmt Haeusser das gelassen hin als „große Prüfung für eine neue Zeit der Wahrheit".

 

Schon jahrelang, seit 1912, plagen ihn immer wieder Skrupel, ob das, was er tagtäglich tut, das Rechte sei. Eine große Angst bedrückt ihn jetzt: „ Wenn du nicht verrückt bist, dann musst du die ganze Welt für verrückt erklären." Der unsinnige, blutige Krieg bringt im Leben Haeussers die Wende.

 

Am 9. August 1917 schreibt er einen Brief an Kaiser Wilhelm II., er solle durch seine Abdankung endlich das fürchterliche Blutvergießen beenden.

 

Am 16. August  1917 veröffentlicht er einen Aufruf zum Frieden. Dort prophezeit er: „Das entfesselte Volk wird eines Tages mit furchtbarer Faust den Thron zerschmettern, der der Rückkehr des Friedens Widerstand leistet. - Wenn der Glaube Berge versetzt, wird er auch eine Kaiserkrone zu überwinden wissen!"

 

Haeusser fühlt sich nach dem „Durchschreiten des Jammertals" zu neuen, großen Taten berufen. Nächtelang schreibt er zwanghaft seine Gedanken auf. Er plant die Herausgabe einer Zeitschrift mit dem Titel „La Libération. Organe d´une paix universelle basé sur la vérité." Zu deutsch: Die Befreiung. Organ eines Weltfriedens auf der Basis der Wahrheit.

 

Im Sommer 1918 wird das Berufungsgefühl so stark, dass ihm seine Geschäfts­tätigkeit unmöglich wird. Haeusser wird von „der Wahrheit" überwältigt. Aus dem Sektfabrikanten wird ein Prophet der Wahrheit. Dazu ein Zitat aus dem Bericht einer schweizerischen Zeitzeugin: „Ein modisch hoch eleganter schwarz gekleideter Herr mit Zylinder, weiß gestärktem Hemd, am Arm ein Stock mit glanzsilbernem Griff. Er präsentiert sich als Champagnerfabrikant aus Paris (seine Sprache war rein deutsch ohne französischen Akzent) und nach seiner Aussage beabsichtigte er, sein ganzes Vermögen in den Dienst des Weltfriedens zu stellen und er begann uns über das grauenhafte Weltbild vorzutragen, in dem er mit seinem Stock auf unseren runden Tisch schlug und endete mit den Worten: „Es wird bald so weit kommen, dass alle Grenzpfosten in Europa ausgerottet werden."

 

Was Haeusser tut, tut er konsequent.

Nach einer Geschäftsreise, auf der er, statt seinen Sekt anzubieten, stundenlang über religiöse Dinge gesprochen hat, kauft er die besten Sachen ein für ein opulentes Festmahl, bewirtet hinterher seine Angehörigen im Kasino in Luzern und gibt ihnen Geld zum Spielen.

 

Haeusser fängt ein neues Leben, „ein Leben in Wahrheit", an. Er verlässt Frau und Kind, isst in den Züricher Volksküchen dürftige Suppen und entbindet Freunde und Bekannte der Grußpflicht. Er kündigt mit großartigen Plakaten öffentliche Vorträge an, die aber niemand hören will.

 

Haeusser sucht Hilfe in der Lebensreformer-Siedlung Monte Verita (Berg der Wahrheit!) in Ascona. Er studiert dort die ostasiatische Weisheit des Laotse, die ihn nach bitteren Zweifeln in seinem Denken und Tun bestärkt.

 

Auf dem Monte Verita hat übrigens auch Hermann Hesse aus einer tiefen Lebenskrise gefunden. Bei ihm war das Ergebnis sein Buch Siddharta, das vielen jungen Menschen ein Wegweiser fürs Leben wurde. Ich gehöre auch zu denen.

 

Auf dem Monte Verita ist aus Haeusser ein anderer Mensch geworden. Noch ein Zitat aus dem Bericht der schweizerischen Zeitzeugin: „Nach einiger Zeit erschien er wieder bei uns, unangemeldet, während unserem Mittagessen. Doch diesmal welches Aussehen: Ein völlig heruntergekommener Mensch, den man nur an seinem schwarzen Anzug erkannte. Seinen jetzt ungepflegten Bart hatte er inzwischen so lange wachsen lassen, um damit seinen hemdlosen Hals und die nackte Brust zu verbergen. Auf unsere Fragen antwortete er ausweichend und interessierte sich nur für das Essen, er schien sehr hungrig zu sein."

Haeusser ist überzeugt, durch Selbstbeherrschung und Dienen zur „Herrschaft durch Wahrheit" berufen zu sein. Eitelkeit, Hochmut, Stolz, Dünkel, Ehrgeiz und Eigenliebe seien ihm ganz fremde Begriffe geworden. „Ich bin still, heiter, freudig wie das Kind."

 

Im Januar und Februar 1919 versucht Haeusser noch einmal in Vorträgen seine Botschaft zu verkünden. Doch auch dieses Mal scheitert er damit.

 

Seine Reaktion darauf: „Die Worte sind zu arm, um das große Erfühlen und Erleben meines Inneren kund zu tun. Daher können nur ganz wahr Suchende mich verstehen, erfassen, begreifen! Den anderen bin ich Anstoß, Ärger, Unverstand. Ich bin ein Neuling, ganz und gar. Es ist mir ernstlich um das zu tun, von dem ich stammle." Doch Haeusser gibt nicht auf. Weitere Vorträge folgen. Diese sind der schweizerischen Obrigkeit suspekt. Am 28. Februar 1919 wird er in Zürich verhaftet und als unerwünschter Ausländer ohne Erwerbstätigkeit ausgewiesen.

 

 Ende Mai kommt er, der einstige noble Sektfabrikant, abgerissen und bettelarm zu Schwester und Schwager nach Pforzheim. Deren Freude über diesen Besuch kann man sich lebhaft vorstellen!

 

Haeusser entwickelt sich schnell zum Wanderprediger. Er verkündet die Botschaft seiner Wahrheit und füllt Säle damit.

 

Man bedenke die Zeit, in der dies geschieht.

Nach dem stolzen „Deutschland über alles" Kaiser Wilhelms II., Hunger, Not und Elend nach dem verlorenen Krieg. Und dann kommt einer, der der „Wahrheit und nichts als der Wahrheit" lebt, arm unter Armen lebt, der einen Weg in die Zukunft zeigt. Haeusser verkündet: „Ja - Ich - ist Gott, das ist sehr wahr, und so DU Gott in DIR - DEINEM ICH-SELBSTBEWUSSTSEIN und deinem ICH-WILLEN suchst, so bist du auf dem rechten Weg. Selig wer im Glauben kämpft - selig wer im Kampf besteht. Damit meine ich aber nicht den alltäglichen, bequemen Hausgebrauch des von den Kirchen - Mietlingen (da sind die Pfarrer gemeint) gepredigten Christumglauben. Nein - damit meine ich den Glauben, der Himmel und Erde erschuf, den fruchtbaren, furchtbaren Schöpferglauben, nicht den Glauben an die Tat eines anderen, nein - den Glauben an MICH, AN MEINE TAT - nicht an Jesu sollst du glauben - nein - an Dich selbst - an Deine Tat - an Dein Können - an Deine Kraft - an Deinen Selbsterlöserwillen - an Deine Selbstüberwindungsmacht - an Dich - an Deine in Dir selbst schlummernde Geistes-Gewalt sollst du glauben - und sie ist da - diese Gotteskraft in Dir - aus Dir - so bald Du fest daran glaubst. Glauben und es ist!"

 

Kein Wunder, dass diese Botschaft vom sich selbst überwindenden Wahrheitsmenschen für viele Menschen jener Zeit der Verzweiflung an Gott und der Welt geradezu eine Offenbarung für eine lebenswerte Zukunft gewesen ist.

 

Haeusser muss ein glänzender Redner gewesen sein, der dem Volk aufs Maul schaute und sich vor derben Formulierungen nicht scheute. Sein Äußeres - die Kutte, der lange wallende Bart und ein durchdringender Blick schafften ein geradezu hypnotisches Charisma. Haeussers Vorträge füllten die Säle trotz Eintrittsgeld.

 

Bald schart sich eine Schar Jüngerinnen und Jünger um ihn. Wie er geben sie ihren Beruf und ihren Besitz auf, übernehmen den Verkauf von Haeussers Schriften, kleben Plakate, organisieren die Versammlungen und verwalten die üppig eingehenden Gelder.

 

Haeusser greift in seinen Reden mit scharfen Worten natürlich auch „die Verlogenheit" der Parteien und des Staates samt seiner Diener an. Als die Obrigkeit mit Redeverbot und einer Flut von Prozessen darauf antwortet, reagiert Haeusser unmäßig. Redeverbote beachtet er nicht. Als er in Stuttgart auf offener Straße verhaftet wird, schreit er in die Menge: „Ich bin die Wahrheit und neben mir läuft die Lüge!" Wie in seiner Kindheit vom Vater fühlt sich Haeusser in seinem Wollen unterdrückt , und wie damals wehrt er sich mit aller Kraft dagegen. Haeusser lässt sich nicht brechen! Er überschüttet die Obrigkeit mit Verbalinjurien sondergleichen. Sein derbschwäbischer Wortschatz ist dabei unergründlich. Wollte man alle von Haeusser veröffentlichten Tiraden zitieren, säßen wir, verehrte Zuhörer, noch um Mitternacht im Rathaus. Eine Kostprobe möchte ich ihnen aber nicht vorenthalten.

 Anfang März 1922 bekommt Haeusser einen Brief aus Waiblingen:

 

Stadtschultheißenamt Waiblingen, Waiblingen am 3. März 1922.

 

Louis Haeusser, Wanderredner

zur Zeit wohnhaft in Hamburg, Karolinenstraße 6,

übersandte der Polizeibehörde Waiblingen seine Zeitschrift „Haeusser Nummer 101/1922" deren Inhalt das gesunde Empfinden normal veranlagter Menschen verletzt. Mit der Anschrift „Polizeipräsident von Waiblingen" wollte sich Haeusser ohne Frage über unsere kleinstädtischen Verhältnisse lustig machen. Als württembergisches Landkind musste Haeusser wissen, dass es in württembergischen kleinen Städten und in Württemberg überhaupt keine Polizeipräsidenten gibt. Die Anschrift war also als ungebührlicher

 

Ulk aufzufassen. Durch die Zusendung seiner Haeusser-Zeitschrift  und durch die unziemliche Anschrift hat Haeusser die einer Behörde schuldige Achtung verletzt.

 

Beschluss:

 

Der Beschuldigte wird wegen Ungebühr aufgrund des Artikel 3 des Gesetzes vom 12. August 1879 zu einer Geldstrafe von 20 Mark, an deren Stelle für den Fall, dass die Geldstrafe nicht beigetrieben werden kann, eine Haftstrafe von vier Tagen tritt, auch zum Ersatz der durch das Verfahren entstandenen Kosten und der Kosten der Strafvollstreckung verpflichtet.

 

Stadtschultheißenamt Waiblingen

Stadtschultheiß Vogel

 

 

Haeusser antwortet postwendend mit einer offenen Postkarte:

 

Hamburg, 13. März 1922

Stadtschultheiß Vogel, Waiblingen

 

Junge! Junge! Du hast wirklich einen Vogel. Mit 8,80 Mark Strafporto übernahm ich deinen  „Streich". Es sind ja halt nur Schwabenstreiche. Wie wahr! Ich erhebe Beschwerde! Ich fordere einen gerichtlichen Entscheid.

Haeusser

 

Die Antwort auf diese Karte kommt prompt, eine erhöhte Strafe ist fällig. Haeusser bebt vor Zorn. Er schreibt zurück:

 

„Du bist ein glattes Rindvieh! Siehst Du - Hornochse - denn nicht - dass ICH auf deine öden faulen stumpfsinnigen Paragraphen scheisse, ja scheisse und zwar einen großen Haufen! - - Du bist nicht wert, dass dich die Sonne bescheint, oder ein Pudel bepisst! Du nasses Huhn, Bettsaicher! Du verdienst angebrunzt und in den Schatten gestellt zu werden, damit du nicht so schnell trocknest!

Haeusser

 

Hoffentlich bekomme ich nun zwei Milliarden Dollars Geldstrafe oder vier Milliarden Tage Gefängnis! - Dein Haeusser!"

 

Kein Wunder, dass die Behörden alles tun, um Haeusser das Leben schwer zu machen. Zweimal wird er in Irrenanstalten zur Untersuchung seines Geisteszustands eingewiesen. Beide Untersuchungen ergeben, dass er seiner Sinne mächtig und von überdurchschnittlicher Intelligenz sei, er leide lediglich an stark übersteigerter Ich-Bezogenheit.

 

 

Zwischen Haeusser und den Behörden entwickelt sich ein unseliger Dauerkrieg, durch den Haeusser einen großen Teil seiner immensen Kraft vergeudet. Durch seine unbotmäßige Sturheit, die aber ist ja ein Teil seiner Wahrheit, verbringt er von nun an mehr Zeit im Gefängnis als in der Freiheit.

 

Haeusser will durch die Wahrheit Deutschland, Europa, die Welt erretten und die Obrigkeit lässt das nach seinem Verständnis nicht zu.

 

1922 brennt ihm die Sicherung durch, nun will er an die Macht im Staat, um sein Ziel zu erreichen.

 

Eine ähnliche Entwicklung ist in unserer Zeit bei Ulrike Meinhof zu erkennen. Haeussers Ende war gnädiger!

 

 Haeusser legt sich den Titel eines obersten Kriegsherren im Kampfe für eine treue, vom gesamten Volkswillen getragene Regierung zu.

 

Seinen Richtern schleudert er entgegen: „Habt ihr euch denn selbst gerichtet? - Woher nehmt ihr denn das Recht - ihr Unreinen - Mich zu richten? - Ihr alle seid befangen, gefangen in dem Wahne der sündigen Machtgelüste! Ich klage euch alle an: Der Befangenheit, der Unfähigkeit, der Unzulänglichkeit Mich zu richten." Er veröffentlicht Listen von Richtern, die ihn bestraft haben und prophezeit ihnen, sie drei Tage nach Übernahme der diktatorischen Gewalt hinzurichten als der Hinrichter aller Ungerechten auf Erden.

 

Haeussers Wille zur Macht ist trotz aller abzubüßenden Haftstrafen ungebrochen. Es gelingt ihm, in Oldenburg den jungen Rittmeister a.D. Graf von Bothmer für sich zu gewinnen. Mit diesem zusammen gründet er die christlich-radikale Volkspartei, die Deutschland aus dem Sumpf der Lüge zur Wahrheit führen werde.

 

Haeusser verlobt sich an Weihnachten 1922 mit Graf Bothmers Schwägerin. Damit gelingt ihm der Aufstieg in hochadelige Kreise. Die Ausgangsbasis für seine politische Mission steht damit auf besseren Füßen als seither.

 

Die Zeit der „Kuttenbrunzerei" (Originalton Haeusser!) ist vorbei. „Ich habe mich gewandelt - ein neuer - moderner - korrekter - eleganter - gediegener Haeusser schreibt diesen Brief an sie."

 

Die Bilder der Ausstellung zeigen diese Verwandlung vom Wanderprediger zum Politiker.

 

Aus der Heirat in den Hochadel wird jedoch nichts. Die Mutter der Braut hat auf Drängen der Verwandtschaft und des Adelsvereins ihre Tochter in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik aus dem Verkehr gezogen.

 

Doch Haeusser ist Napoleon. Haeusser stirbt, aber ergibt sich nicht.

 

„Ich bin der kraftvolle deutsche Führer, der für die Wahrheit gegen die Lüge kämpft."

 

Als die Regierung des Landes Oldenburg durch Haeussers maßlose Angriffe die öffentliche Ordnung und Sicherheit bedroht sieht, und weitere Versammlungen verbietet, reagiert Haeusser mit einem Brief als „Oberster Kriegsherr der Wahrheitsarmee" und sagt den „regierenden, winzigen, kleinen, wanzigen, ranzigen, lausigen Stehaufmännchen der Regierung" den Kampf an. Das Versammlungsverbot erachte er als „Arschwisch" und er werde Störungen seiner Versammlungen „mit rohester Gewalt" entgegentreten.

 

Damit ist das Maß übervoll. Haeusser wird verhaftet und in die Strafanstalt Vechta eingeliefert. Dort beschimpft er die Obrigkeit in Gestalt des Personals vom Direktor bis zum Wärter. Eine äußerst harte Behandlung ist die Folge.

 

In drei Strafverfahren wird Haeusser zu einer Gesamtstrafe von einem Jahr und neun Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von einer Million Mark verurteilt. (Die Höhe der Geldstrafe ist durch die Inflation bedingt!) Haeusser muss die Haftstrafe sofort antreten und tritt deshalb in Hungerstreik. Auch seine treuesten Jüngerinnen, Adele Juels und Olga Lorenzen, kommen sechs und fünf Monate hinter Schloss und Riegel.

 

Im Gefängnis, die lange Haftstrafe vor sich, fällt Haeusser in eine tiefe Depression. Ein unbändiger Schreibzwang kommt über ihn. Er beschreibt 2413 Seiten auf Zetteln, Klopapier, Packpapier und nennt das Ganze „das furchtbarste Werk der Menschheitsgeschichte". Adele Juels und Olga Lorenzen tippen diese Ergüsse, lassen sie drucken und vertreiben sie als das dritte und vierte Testament Haeussers.

 

Haeusser hat in diesen sogenannten Testamenten alles, aber auch alles, was ihm durch den Kopf schwirrte, aufgeschrieben. Neben viel Ungereimtem, ja Widerwärtigem, findet man darin Passagen, die Staunen erregen.

 

Zwei Beispiele:

„Ich? Ich und verrückt? - das wisst ihr längst, dass ich nicht verrückt bin - ihr ahnt sogar, dass ihr verrückt, abgerückt, weggerückt, von der Stelle gerückt, aus den Gottesangeln gehoben seid - nicht vollkommen - nicht ganz - nicht normal seid."

 

Oder: „Leben - heißt dunkler Gewalten Spuk bekämpfen - in sich - richten - Gerichtstag halten über sein eigenes ich!"

 

Dies ungezügelte Schreiben wird Haeusser zur Rettung. Wäre ihm das auch noch verboten worden, wäre er noch schneller zugrunde gegangen. Seine Gesuche um Haftverschonung wegen seines miserablen Gesundheitszustandes werden weitgehend abgelehnt. Man verbringt ihn ins Gefängnislazarett. Er leidet an akuter Herzschwäche, Lähmungserscheinungen und Gelenkerkrankungen.

 

1923 probiert er durch die Eheschließung mit Olga Lorenzen, mit der er eine zweijährige Tochter hat, Haftbefreiung zu erreichen. Auch dies gelingt nicht. Haeusser muss seine Strafe bis zum letzten Tag absitzen. Als er aus der Haft heraus zu einer Verhandlung gegen ihn vom Amtsgericht Tettnang vorgeladen wird, und ihm bei Nichterscheinen eine hohe Gefängnisstrafe angedroht wird, fleht er seinen Bruder Fritz um Hilfe an. Er solle ihn abholen und nach Tettnang bringen. Einen tagelangen Sammeltransport Gefangener würde er nicht überleben. Der Bruder tut alles, um ihm zu helfen, scheitert aber an der Sturheit des oldenburgischen Staatsanwalts.

 

Bei der Weihnachtsamnestie 1923 werden Hitler und der Anarchist Erich Mühsam aus der Haft entlassen, Haeusser wird übergangen und bleibt bis zum Juli 1925 im Gefängnis.

 

Doch Haeussers Wille ist nicht zu brechen!

 

1924 gibt er die Partei auf und gründet aus dem Gefängnis heraus den Haeusserbund. Seine übrig gebliebenen Getreuen ermahnt er: „Es ist jetzt Zeit - die höchste - allerhöchste Zeit - nicht zum Schlafen bei den Schafen, nicht zum Erraffen noch zum Erschlaffen - bei den Schlaraffen. Nein!! - nur zum Schaffen - ist es Zeit. Schaffet - Menschenskinder - schaffet eure Seligkeit - schaffet, dass ihr selig werdet - nicht mehlig, nicht räudig und häutig, wie die Heutigen!"

 

Der Haeusserbund beteiligt sich bei den Reichstagswahlen 1924. Haeusser träumt vom endgültigen überwältigenden Sieg der Wahrheit. Das Ergebnis ist niederschmetternd. Von über 30 Millionen abgegebener Stimmen erhielt der Haeusserbund weniger als Zehntausend.

 

Aber noch gibt Haeusser nicht auf. 1925 will er Reichspräsident werden. Da die Zahl seiner Anhänger rapide abnahm, kann er als Kandidat nicht nominiert werden.  Die für ihn abgegebenen Stimmen sind ungültig. Der Traum vom Reichspräsidenten, vom Präsidenten eines vereinten Europa, der Traum eines Weltpräsidenten der Wahrheit ist endgültig ausgeträumt.

 

 

 

Die Anhänger laufen auseinander. Die schlimmen Elendsjahre nach dem Krieg und der Inflation sind überstanden. Durch die lange Haft Haeussers ist der Bund zerbrochen, das Geld ist statt für Propaganda für Gerichts- und Krankheitskosten ausgegeben worden.

 

Doch Haeusser ist Napoleon. Haeusser stirbt, aber er ergibt sich nicht. 1925 geht es ihm nach der Haftentlassung gesundheitlich besser. Wieder hält er Versammlungen ab und wettert gegen den Völkerbund. Als 1926 ein Volksentscheid über die Abfindung der Fürsten ansteht, plädiert Haeusser für die entschädigungslose Enteignung der Fürsten. Auch Christus würde so stimmen, weil er sagte: Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden.

 

Im September 1926 hat Haeusser einen völlig neuen Plan. Er will nach dem Scheitern seiner politischen Tätigkeit mit seinen übrig gebliebenen Jüngern und Jüngerinnen eine Landkommune bei Berlin errichten.

 

 

Doch dazu reicht das Geld nicht. Haeussers Gesundheit verschlechtert sich zusehends. Er mietet in Berlin eine große Wohnung, lebt dort mit seinen zwei Mäuschen, so bezeichnet er Adele Juels und seine Frau Olga, und den wenigen Getreuen, die ihm geblieben sind.

 

 Im Mai 1927 muss Haeusser ins Krankenhaus Berlin-Neukölln eingeliefert werden und stirbt dort am 9. Juni in seinem 45. Lebensjahr.

 

Zu seiner Beerdigung kommen mehrere hundert Anhänger aus ganz Deutschland. Eine kleine, doch treue Jüngerschar hält sich bis in die siebziger Jahre, treu bis in den Tod.

 

Überdenkt man den Lebenslauf Ludwig Christian Haeussers, dieses kraftvollen, gescheiten, willensstarken Mannes, des erfolgreichen Kaufmanns und dessen Wandel zum „Heiland von Bönnigheim", dessen Botschaft der Wahrheit doch vielen Menschen einen Weg in eine lebenswerte Zukunft zeigte, eines Mannes, der ob der vermeintlichen Dummheit und Bosheit der Obrigkeit, die ihm das Reden verbot, in Verzweiflung und unbeherrschte Gegenwehr geriet, der darüber in einen unmäßigen Machtwahn verfiel und letztendlich daran zugrunde ging, kommt man zu dem Ergebnis: Schade!

 

Haeussers Utopie eines vereinten Europa ist Wirklichkeit geworden. Ein Weltpräsident ist heute so utopisch nicht mehr. Doch dass das dann ein Weltpräsident der Wahrheit sein wird, ist mit Sicherheit utopisch!

 

Ich möchte meinen Bericht beschließen mit bedenkenswerten Worten Louis Haeussers, des unermüdlichen Kämpfers für die Wahrheit:

 

„Die Wahrheit, die Vollkommenheit, die Überwindung bestehen darin, nichts zu verschönern, nichts zu unterdrücken, nichts zu denken, nichts zu tun, was nicht die ganze Welt öffentlich wissen kann; die Wahrheit hat keinen relativen, sondern absoluten Charakter; sie besteht darin, das Unerkannte ins Erkannte, das Bedingte ins Unbedingte zu erheben. Die Vollkommenheit ist kein Widerspruch, sie ist die Wahrheit, die letzte Echtheit des Menschentums und der einzige Sinn unseres Daseins!"

 

 

 

Quellen:          Haeusser-Konvolut im Stadtarchiv Bönnigheim

                        Ulrich Linse, „Barfüßige Propheten", Berlin 1983

 

(als Manuskript gedruckt)

 

Vortrag: Stadtarchivar Dieter Gerlinger

Rathaus Bönnigheim am 29. März 2000