Die Ankunft der vielen ukrainischen Kriegsflüchtlinge in europäischen Ländern lässt gegenwärtig allzu oft die Tragödie vergessen, die Menschen aus den ärmeren Teilen der Welt schon seit Jahren im Mittelmeer erleiden. „Dort spielen sich Tag für Tag Dramen ab. Menschen verlieren ihr eigenes Leben, oder müssen mit ansehen, wie Angehörige ertrinken“, heißt es in einem Schreiben der Kirchheimer Ortsgruppe der Organisation Seebrücke an Bürgermeister Uwe Seibold und den Kirchheimer Gemeinderat, über dessen Inhalt am Donnerstag letzter Woche im Gremium beraten wurde.
Mit ihrer Aktion „Sicherer Hafen“ will die Organisation Seebrücke Städte und Kommunen in ganz Deutschland dazu bewegen, mehr Asylsuchende aufzunehmen, als es die Verteilungsquote vorsieht. Deutschlandweit sind bereits 309 Städte, Gemeinden und Landkreise dem Aufruf von Seebrücke gefolgt und zu „sicheren Häfen“ für Flüchtlinge geworden. In Baden-Württemberg haben sich bislang 41 Kommunen dazu bekannt – darunter aus der Umgebung auch Asperg, Bietigheim-Bissingen, Gerlingen, Lauffen und Marbach.
Jetzt erklärt sich auch die Gemeinde Kirchheim zum „Sicheren Hafen“ für Menschen, die auf ihrer Flucht über das Mittelmeer in Seenot gerettet wurden. Am Donnerstag der vergangenen Woche stimmte eine Mehrheit im Gemeinderat einem entsprechenden Antrag von elf Kirchheimer Bürgerinnen und Bürgern zu. Darin wird der Gemeinderat auch aufgefordert, an die Bundesregierung zu appellieren, „sich weiterhin und verstärkt für die Bekämpfung der Fluchtursachen sowie für eine staatliche Seenotrettung der Menschen im Mittelmeer einzusetzen“.
Dem Mehrheitsbeschluss, den Tobias Vogt, Christoph Braun und Tobias Munz nicht mittrugen, ging letzte Woche im Gemeinderat ein einstimmig gefasster Beschluss voraus, der den Sozialausschuss damit beauftragt, ein „humanitäres Leitbild“ für alle hilfsbedürftigen Menschen in der Gemeinde zu entwickeln. Mit der Ausarbeitung eines „humanitären Leitbilds“ wollen Seibold und die Gemeinde unterstreichen, dass in Kirchheim letztlich allen bedürftigen Menschen in Notlagen geholfen wird.
Die Unterstützung von Flüchtlingen wird von der Gemeinde als gleichwertig mit der Hilfe für alle übrigen Bedürftigen im Ort betrachtet. Das Bekenntnis zum „Sicheren Hafen“ wollte Seibold unbedingt mit der Erarbeitung eines „humanitären Leitbilds“ verbinden und damit eventuellen Missverständnissen entgegentreten. Auf seinen Wunsch hin stimmte der Gemeinderat letzte Woche daher zunächst über die Entwicklung eines „humanitäres Leitbild“ ab und erst danach über die Beteiligung an der Seebrücke-Aktion „Sicherer Hafen“. Das Leitbild soll der Sozialausschuss nun zusammen mit den Kirchengemeinden, der türkisch-islamischen Vereinigung und mit den örtlichen Vereinen entwickeln, die im sozialen Bereich aktiv sind.
Zu Beginn der Beratungen erinnerte Seibold einführend in das Thema daran, dass die EU vor einiger Zeit die staatliche Seenotrettung eingestellt hat. Somit gäbe es nur noch private Initiativen zur Rettung von Flüchtlingen auf See. Den Antrag der Kirchheimer Seebrücke-Ortsgruppe erläuterte Stephan Hennig, der zwar zu den Mitunterzeichnern gehört, aber nicht Mitglied der Organisation Seebrücke ist. Somit galt Hennig für Seibold auch nicht als befangen. Hennig schilderte in drastischen Worten, was sich in Europa unter aller Augen ereignet: Die Flüchtlinge aus Afrika und dem arabischen Raum würden an vielen europäischen Grenzen abgewiesen und nach Osteuropa „zurückgedrängt“. Solche „Push-backs“ seien illegal und verstießen ebenso gegen die Flüchtlingsordnung wie den Ampel-Koalitionsvertrag, meinte Hennig und endete: „Das ist nicht mein Deutschland und lässt mich voller Scham zurück“.
Deutschland und Europa dürften beim Flüchtlingsproblem nicht wegschauen, sagte Jürgen Brückner auch im Namen von Hubert Deisinger, der an der Ratssitzung nicht teilnehmen konnte. Deutschland werde den Menschen oft als „Paradies“ verkauft und es sei für die Meisten tatsächlich auch attraktiv in diesem Land zu leben. Andere könnten aber „den Anforderungen nicht mehr folgen“ und gerieten aufs „Abstellgleis“, machte Brückner deutlich. Auch Flüchtlinge kämen in Deutschland oft „nicht mehr hinterher“. Der Staat dürfe sich nicht aus seiner Verantwortung zurückziehen.
Ganz anders äußerte sich Tobias Vogt. Zwar erkannte auch er im Flüchtlingsproblem ein „sensibles, schwieriges Thema“. Und auch Vogt kritisierte, dass es staatlich koordinierte Rettungsversuche im Mittelmeer nicht mehr gäbe. Als Kommune sei Kirchheim aber für die Lösung des Flüchtlingsproblems nicht direkt zuständig, urteilte Vogt. Der Gemeinderat habe „kein allgemein-politisches Mandat“, sondern könne nur kommunale Themen behandeln. Vogt warf den BefürworterInnen des „Seebrücke-Antrags“ schlicht „Symbol-Politik“ vor und beharrte auf die Rechtsstaatlichkeit in Deutschland, die in manchen Fällen auch die Abschiebung von Asylsuchenden möglich mache. Die Erarbeitung eines „humanitären Leitbilds“ befürwortete Vogt indes.
Für Seibold stellten die beiden Ratsbeschlüsse keinen Widerspruch dar. Es ginge vielmehr darum, eine Spaltung der Bevölkerung bei sozialen Themen zu vermeiden. Denn dies gehe „auf Kosten der Schwächsten“, argumentierte Seibold und betonte, dass die Gemeinde bereits in den vergangenen Jahren jeden Asylsuchenden aufgenommen habe. Daran werde auch der Beschluss zum „Sicheren Hafen“ nichts ändern. Seibold erklärte zugleich, dass es in Deutschland eine Flüchtlingsregelung gäbe, die die Gemeinde Kirchheim auch nicht unterlaufen wolle. Besonders wichtig war ihm indes das „humanitäre Leitbild“. „Alle Menschen brauchen Hilfe“, hob Seibold am Ende hervor, unterließ es dabei aber auch nicht, nochmals auf die Notwendigkeit der Aufnahme von aus Seenot geretteten Flüchtlingen hinzuweisen.
Auch für Inge Schemminger hatte sowohl das „humanitäre Leitbild“ als auch die Aufnahme von Flüchtlingen eine hohe Bedeutung. Immanuel Schmutz zeigte sich über Vogts Überbetonung der Rechtsstaatlichkeit verärgert. Humanität sei nicht rechtswidrig, hielt er Vogt entgegen. Deutschland sei nicht nur aus christlicher Nächstenliebe, sondern auch aus rein ökonomischen Gründen auf den Zuzug von jungen Menschen aus anderen Ländern angewiesen, äußerte Schmutz.
Der Ratsmehrheit Contra gab daraufhin – wie zuvor schon Vogt – wiederum Braun. Das Flüchtlingsthema habe im Kirchheimer Gemeinderat nichts verloren, schloss sich Braun der Bewertung von Vogt an. Die Gemeinde habe in den nächsten Jahren genügend andere Dinge, mit denen sie sich beschäftigen müsse. Mit Vogt und Munz stimmte Braun am Ende aber trotzdem – wie alle übrigen Ratsmitglieder – für das Leitbild, aber eben gegen den Seebrücke-Antrag.
Zum „Sicheren Hafen“ für Flüchtlinge, die im Mittelmeer dem ansonsten sicheren Tod entgangenen sind, wird die Gemeinde Kirchheim nun trotzdem. Zusätzlich dazu soll künftig ein „humanitäres Leitbild“ allen sozial Bedürftigen im Ort vermitteln, dass sie in Kirchheim willkommen sind und nicht vergessen werden.